SHINGAL - شنگال

Das Einzige von Bestand ist der Wandel

Kunsttherapeutische Begleitung von Frauen aus den Kriegsgebieten des Nordirak

Die kunsttherapeutische Begleitung soll der Strukturierung, Stabilisierung und Orientierung dieser schwer traumatisierten Menschen dienen, durch die Stärkung ihres Selbstwertgefühls Halt geben und die Rückführung in den Alltag unterstützen.

Malen und Zeichnen

Zunächst tasteten sie sich malerisch und zeichnerisch, immer das Zentrum eines Motivs betonend, voran. Die Fragen: „Was gibt ihnen Kraft?“, „Wodurch wird ihnen ein Wiedererleben ihrer Würde und ihres Selbstwertes ermöglicht?“ begleiteten den gemeinsamen Prozess.

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Spinnen

Im Suchen nach ihren Ressourcen entdeckte ich ihr Interesse am handwerklich Gestaltenden, besonders des Verarbeitens von Schafwolle. Die Frauen stiegen intensiv ein und verspannen (mit einer Tellerspindel!) acht Kilogramm Rohwolle. Das war ihnen vertraut, sie erlebten sich in einer befriedigenden, ihnen bekannten Aktivität.

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Färben

In einer gigantischen Aktion färbten wir im Sommer 2016 ganze 14 kg reine Schafwolle mit Pflanzen. Die Pflanzen wurden - soweit möglich - mit den Frauen auf Spaziergängen gesammelt und für das Färben aufbereitet, es sollten ja Pflanzen aus ihrer unmittelbaren neuen Umgebung sein. So schälten sie ein paar Apfelbaumäste und nahmen Efeu aus ihrem Garten, Frauenmantel aus dem Wald in der Nähe, Birkenblätter, Walnussblätter und -schalen, Zwiebelschalen aus ihrer Küche. Cochenille aus Schildläusen kam aus Indien, auch Indigo für die Blautöne wurde hinzugekauft. Es ergaben sich aus den heimischen Pflanzen viele Abstufungen von Beige bis Zitronengelb, auch Goldgelb. Aus Henna, mit dem die Frauen im Irak traditionell ihre Handflächen färben, wurde ein prächtiges Orange gewonnen. Dann wurde am Schluss Gelb mit Indigo gemischt, um Grüntöne zu bekommen usw.

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Sticken

Nach mittlerweile acht Wochen, stickten diese Frauen mit wachsender Freude Kissen und später Taschen. Teils mit traditionellen kurdischen Mustern, aber auch mit freien Motiven.

Anfangs hörte ich ununterbrochen „Das kann ich nicht!“ „Ich weiß nicht!“, oder „Das haben wir früher gekonnt, jetzt haben wir keine Kraft mehr!“ Aber sie ließen sich ermutigen und wollten lernen. Nun kam immer öfter „Das können wir!“ Mut und Selbstwertgefühl wuchsen.

Wir gaben unserer Gruppe den Namen Shingal, ihrem heimatlichen Gebirgszug, mit dem sich alle identifizieren konnten.

Kissenbild
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Rottweiler Weihnachtsmarkt 2016

Die Teilnahme am Rottweiler Weihnachtsmarkt 2016 stellte einen wichtigen Höhepunkt dar. Die Frauen waren soweit gestärkt, dass sie sich der Öffentlichkeit zeigen wollten, indem sie nicht nur ihre schönen Produkte präsentierten, sondern auch Kulinarisches aus ihrer heimischen Küche anboten. Es wurde ein voller Erfolg, die Bevölkerung zeigte sich sehr interessiert und schätzte sehr die vegetarische Alternative zu deutschen Bratwürsten. Mit Freude führten die Frauen ihr handwerklich perfektes Spinnen vor, sofort bildete sich eine Traube von Menschen um sie herum. Erstmalig kam Kontakt zur Stadtbevölkerung zustande.

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Einladung zu mehr

Zum Stadtfest im September 2017 sind wir als Bereicherung des gewohnten kulturellen und kulinarischen Angebotes eingeladen. Allen Selbstzweifeln und Schamgefühlen zum Trotz können die Frauen durch dieses Angenommen-Sein der Rottweiler Bevölkerung und Akzeptanz ihres Tuns ihren Gesundungsprozess aktiv begleiten.

Weben

Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, oder die Erinnerung an das, was ihre Mütter und Großmütter taten, konnte im Laufe dieses Jahres durch die Rück-Besinnung auf die Kunst des Webens gestärkt werden. Viele Schals entstanden. Dieses rhythmische Arbeiten wirkte erfrischend und belebend, es erzeugte eine Art belebte Ruhe und förderte Gelassenheit. Mädchen und sogar junge Männer beteiligten sich am Weben, wie immer nahm die ganze Gemeinschaft Anteil.

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Ausblick

Mehr und mehr gerieten ihre Stärken und weniger ihre Defizite in den Fokus. Wäre die Gründung einer kleinen Manufaktur im Bereich eines social business für die Zukunft möglich? Die Frauen könnten wieder mehr Kontrolle über die eigene Zukunft gewinnen. Aus eigener Kraft ein Einkommen zu erwirtschaften, ist zentral für das Erleben von Selbstwirksamkeit. Durch dieses neu gewonnene Selbstwertgefühl eröffnet sich neuer Lebenssinn, die Hoffnung auf eine mögliche Perspektive entstehen, ihr Schicksal besser zu ertragen oder ihre Geschicke eines Tages selbst in die Hand nehmen zu können.

Warum die Überschrift: Das Einzige von Bestand ist der Wandel“?

Diese oben skizzierte Entwicklung im Laufe der ersten fast 1 ½ Jahren ist keine geradlinige, sich kontinuierlich entwickelnde. Unsere Erfahrung im Umgang mit diesen schwer traumatisierten Menschen zeigt, dass sie sich sehr bemühen durch ihre seelischen und körperlichen Verletzungen hindurch aktiv zu einem Weiterkommen beizutragen.

Die Frauen haben weitgehend die lateinische Schrift erlernt und – auch die Frauen, die Mütter, mit denen ich mittlerweile vorwiegend arbeite haben sich Deutschkenntnisse erworben. Ich halte es für äußerst wichtig, sie liebevoll zu führen, mit viel Geduld auszuhalten, dass ihre Entwicklung langsamer verläuft, wie sich das ein deutsches Schulsystem, überhaupt eine deutsche Vorgabe von Lernen sich das vorstellt. Mit Empathie und Vorsicht sie dahin ziehen, wo sie noch gar nicht sind, sein können. Zu der Traumatisierung kommen kulturelle Unterschiede hinzu. Diese Menschen hatten ein vollkommen anderes Leben geführt als wir Deutsche, mit viel mehr Gelassenheit und mehr Lebenssinn. Beruflich oder schulische Leistungen stehen bei ihnen nicht über sozialer Qualität und schon gar nicht über dem Zusammenhalt der Familie.

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voneinander Lernen

Wir Mitteleuropäer können von der Lebenshaltung dieser warmherzigen und gastfreundlichen Menschen lernen und sollten unsere Art der Ansprüche, wie hat ein Leben auszusehen, z.B. ist unser Schulsystem das Richtige, überdenken. Diese Menschen zeigen uns, dass Fortschritt, Bildung nicht erzwingbar sind. Diese Menschen brauchen Raum und Zeit, sich individuell zu entwickeln. Auch wir müssen täglich vorhandene Gegensätze in uns hinterfragen und ausgleichen. Das ist ein Charakteristikum menschlichen Wesens. Entwicklung vollzieht sich bei jedem Menschen wie ein lebendiger Pendelschlag zwischen dem individuellen Bestand und vielen kleinen Schritten, entsprechend der jeweiligen Zielvorgabe. So auch bei den Frauen des Sonderkontingentes, die unserer Kultur viele positive Impulse geben können.

Begegnungen jenseits der Kulturen

Über die Kunst sind Begegnungen jenseits der Kulturen möglich. Die Kunst bietet für alle Menschen die Möglichkeit, die Seele (wieder) zu öffnen, über sie einer inneren Harmonie, der Schönheit, den Veränderungen Platz zu geben.

Lassen wir den Wandel zu für einen lebendigen fruchtbaren, dem Menschen gemäßen Fortschritt und unterlassen ein zu frühes und strenges Hineinpressen in mitteleuropäische Strukturen.

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Shingal
ist ein Projekt des Freundeskreises Asyl Rottweil e.V.
und wird gefördert durch
das Staatsministerium Baden-Württemberg, die Baden-Württemberg-Stiftung und die Kreissparkasse Rottweil .
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